Mittwoch, 27. April 2011

Der Lauf des Lebens

Letzte Woche kam ich von der Arbeit mit anschliessendem Ostervorbereitungseinkauf nach Hause, fuhr in die Tiefgarage und schickte mich an, alle Einkäufe aus dem Kofferraum zu räumen. Nebenbei bemerkte ich, dass kurz vorher Frau Meier* hereingefahren war, eine nette alte Dame, die immer was zu erzählen, was zu fragen oder Belange der Wohnungseigentümergemeinschaft zu klären hat. Ich mag sie sehr gern, dennoch dachte ich in diesem Moment, hoffentlich wird unser "Schnack" nicht allzu lange dauern, ich habe heute nur vier Stunden für den gesamten Wohnungsputz zur Verfügung....
Sie hatte ebenfalls manches mit aus dem Auto zu nehmen und so halfen wir uns gegenseitig türenoffenhaltend bis zum Fahrstuhl und warteten dort gemeinsam auf Selbigen.
Auf einmal schaut sie mich an und fragt geradezu, ob ich hier im Hause wohne.
Ich bin etwas verdattert und sage ja, ich bin die Frau Müller* aus dem Zweiten Stock.
Sie schweigt kurz und sagt dann, es tue ihr leid, aber sie kenne mich nicht.
Oh, sage ich, es fällt Ihnen bestimmt wieder ein, wir haben uns zwar schon oft unterhalten, jedoch seien wir uns in letzter Zeit nicht begegnet....
Sie schaut ganz traurig und sagt, sie glaubt, dass sie derzeit ganz schön viel vergisst. Sie tut mir so leid, ich finde keine rechten Worte, die sie vielleicht trösten können.
Inzwischen ist der Fahrstuhl da. Wir steigen ein, ich lächle ihr zu, sie mustert mich und ich sehe förmlich, wie sie nach Erinnerung sucht. Als wir im Zweiten Stock halten und ich meine Taschen zum Aussteigen raffe, sagt sie: "Sie sind mir so fremd, ich könnte schwören, dass ich sie noch nie gesehen habe."....
Diese Begegnung ging mir noch lange nach. Seit 20 Jahren wohnen wir in diesem Haus, Frau Meier* wohnt hier, seit das Haus 1968 gebaut wurde. Ich bin ganz erschüttert, so unvermittelt Zeuge zu werden, wie vergänglich der Mensch doch ist. Ich kenne diese alte Dame als sehr gebildet und kultiviert, feundlich und aufgeschlossen - auch heute trat sie so auf. Und doch fordert das Altwerden von ihr seinen Tribut. Ich denke nach, wie alt sie wohl sein mag, denn schon, als wir vor 20 Jahren hier einzogen, war sie eine ältere Dame.
So hat wohl alles seine Zeit, und nichts auf dieser Welt währt ewig.
Dennoch tut sie mir leid. Mit dem Nachlassen der eigenen geistigen Vitalität so unvermittelt konfrontiert zu werden, ist sicher sehr niederdrückend. Und mir fällt wieder der Satz ein, den mal irgendwo gehört habe: "Altwerden ist nichts für Feiglinge."
*Namen geändert

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Mir geht so etwas immer sehr nah. Vielleicht auch deshalb, da es meine Urgrossmutter und jetzt auch meine Grossmutter betrifft. Zu sehen wie ein geliebter Mensch so seine Eigenständigkeit verliert und dadurch in Depressionen versinkt, nötigt mir schon'ne Menge Mut ab, das als Lauf des Lebns zu akzeptieren.
Ich wünsch' mir für Deine Nachbarin sehr verständnisvolle und geduldige Familienangehörige.
H-live